Oft erlebe ich in meiner Praxis gehemmte Menschen, die von unterschiedlichsten Ängsten verfolgt werden. Und noch öfter erlebe ich Klienten, die sich schämen, weil sie sich minderwertig und „nicht gut genug“ fühlen. Hier erfährst du, warum selbstsichere Menschen Verletzlichkeit nicht mit Schwäche verwechseln und warum Selbstliebe nur ganz oder gar nicht geht!
Der Mensch als soziales Wesen trachtet nach Beziehung und Zugehörigkeit. Unsere soziale Ader nährt sich nicht zuletzt auch von der tiefsitzenden Todesangst, übersehen zu werden. Denn wenn wir für die Gruppe an Menschen, denen wir uns zugehörig fühlen, nicht von Bedeutung sind, sind wir hilflos den Wildtieren zum Fraß ausgesetzt, sobald die Herde weiterzieht. Unsere Beziehungen und Ver-Bindungen sind die Basis unseres Daseins, sie verleihen unserem Leben Sinn und Bedeutung.
Könnten Tote miteinander sprechen, würde kaum einer bereuen, zu wenig gearbeitet zu haben, und ginge es mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht um Status und Macht, sondern viel eher um Menschen, die einmal (ge)wichtiger Teil unseres Lebens waren und zu denen man eine tiefe Verbindung pflegte. Schlichtweg werden wir an jene Zeiten denken, in denen wir liebten. Die texanische Sozialwissenschaftlerin Brene Brown forschte danach, wie wir solche Verbindungen zueinander aufbauen. Und bald erkannte sie die gewichtige Rolle von Scham.
Das deutsche Wort Scham geht zurück auf das germanische Skamo, was so viel wie Beschämung bzw. Schande bedeutet. Wikipedia spricht von einem Gefühl der Verlegenheit oder der Bloßstellung, das durch Verletzung der Intimsphäre auftreten oder auf dem Bewusstsein beruhen kann, durch unehrenhafte, unanständige oder erfolglose Handlungen sozialen Erwartungen oder Normen nicht entsprochen zu haben.
Bei der externalisierten Scham glaubt der Betroffene, andere könnten die eigene Person als minderwertig, schwach oder unzulänglich ansehen, bei der internalisierten Scham wertet man sich selbst ab. Gerechtfertigte Schamgefühle würden tatsächlich negative soziale Konsequenzen mit sich bringen, ist dies nicht der Fall, spricht man von unberechtigter Scham.
Scham kann auch durch Verfehlungen oder peinliches Verhalten anderer ausgelöst werden und ist ein soziales Konstrukt, das sich im Laufe der Zeit verschiebt. Die Gründe, warum wir uns schämen, sind von Kultur zu Kultur verschieden. Im asiatischen Raum etwa hat Scham eine soziale Schutzfunktion. Sie schützt davor, das Ansehen innerhalb einer Gruppe nicht zu verlieren. Schamgefühle helfen dem Einzelnen, Handlungen zu vermeiden, die ihn innerhalb einer Gemeinschaft abwerten oder gar ächten könnten. Auch von evolutionärer Seite betrachtet stellt Scham höchstwahrscheinlich eine wichtige Maßnahme der Anpassung dar – um die Sippe nicht zu gefährden.
Doch nicht nur die Gründe für Scham sind verschieden. Ebenso gibt es gewaltige Unterschiede von Schamgefühlen bei Männern und Frauen. Frauen spinnen ihre Scham hauptsächlich aus einem Netz unerreichbarer und widersprüchlicher Erwartungen und Verhaltensweisen. Als Frau unserer Kultur in dieser Zeit “gut genug zu sein“ bedeutet, glückliche Vorzeigekinder zu erziehen, den perfekten Haushalt zu führen und erfolgreich im Beruf zu sein - und zwar mit links, superfit, superglücklich und superhübsch obendrein.
Auslöser von Scham bei Männern ist die Schwäche. Wir Männer wären gerne „echte“ Männer und wahre Helden, sind es aber häufig nicht bzw. sind unsicher, was man unter Männlichkeit überhaupt versteht. Nicht zuletzt, weil der eigene Vater oft nicht als Vorbild verfügbar war. Die Mama kann dem Sohn nur beibringen, wie man ein guter Sohn ist. Das Mannsein lernt der Sohn zunächst vom Vater oder ist dieser nicht verfügbar von einer anderen männlichen Bezugsperson. Wo männliche Vorbilder fehlen, fehlt den Jungen die Orientierung. Auf der einen Seite sollen wir uns öffnen und Gefühle zeigen, doch auf der anderen will keine Frau einen schwachen Mann! „Zeigen Sie mir eine Frau, die tatsächlich neben einem Mann sitzen kann, in aller seiner Verletzlichkeit und Angst, und ich zeige Ihnen eine Frau, die gerade Unglaubliches leistet!“, soll ein Buchkäufer während einer Signierstunde zu Brown gesagt haben. Letztlich schämen sich Männer dafür, es nicht richtig zu machen, sind verwirrt von den widersprüchlichen Botschaften, wie ein Mann zu sein hätte, und fühlen sich überfordert.
Schamgefühle tauchen in erster Linie dort auf, wo der Ist-Zustand nicht mit dem übereinstimmt, wer man gerne sein möchte. In den Augen anderer möchte man selbstsicher, entschlossen und mutig auftreten, doch eigentlich ist man unsicher, zwiespältig und ängstlich. Man möchte großzügig wirken und ist eigentlich kleinlich. Man will, dass man denkt, dass man Anerkennung durch andere nicht notwendig hat – und ist in Wahrheit unendlich hungrig danach. Man möchte wissend wirken und ist in Wahrheit oft ahnungslos. Dieses überzogene Selbstbild ist das, was andere von mir wahrnehmen sollen. Bleibe ich hinter dieser Vorstellung zurück, tauchen Schamgefühle auf, die sich verstärken, je mehr Menschen dieses Vakuum mitbekommen haben.
Unsichere Menschen betrachten und bewerten sich also überwiegend von außen und erschaffen dadurch eine innere Provinz. Eine Zwangsjacke, genäht aus der vermeintlichen Erwartungshaltung anderer und gefüttert mit destruktiver Kritik an sich selbst.
Schamgefühle haben somit großen Einfluss auf die Steuerung unseres Verhaltens und sind stark mit den Bedürfnissen nach Selbstbestimmung und Zugehörigkeit sowie dem Selbstwert vernetzt. Scham als fundamentale menschliche Emotion prägt das, was wir über uns selbst fühlen und gestaltet unseren Umgang mit anderen. Jung´sche Analysten nennen Scham den Sumpf der Seele.
Im Laufe ihrer Forschungsarbeit erkannte Brown nun aber, dass Menschen, die ein besonders erfülltes Leben führen, gar nicht erst versuchen, immer perfekt zu sein, um geliebt zu werden!
Auf der einen Seite gibt es Menschen mit einem niedrigen Selbstwert, die sich ständig fragen, ob sie gut genug sind. Auf der anderen Seite sind Menschen mit einem ausgeprägten Selbstwertgefühl anzutreffen, die intensive Gefühle wie jenes der Liebe zulassen und sich selbst zugehörig fühlen bzw. sich um Zugehörigkeit bemühen. Solche Menschen glauben, der Liebe und Zugehörigkeit würdig zu sein. Sie glauben daran, dass sie es wert sind.
Menschen mit hohem Selbstwertgefühl waren laut Browns Studien außerdem zu ausgeprägtem Mitgefühl fähig - zunächst sich selbst gegenüber. So waren sie sich dessen bewusst, dass sie zuerst liebenswürdig zu sich selbst sein müssen, um es anderen gegenüber sein zu können. Das bedeutet, dass Menschen, die sich selbst lieben, schlichtweg den Mut haben, unvollkommen zu sein. Selbstliebe geht entweder ganz - oder gar nicht. Wer die Liebe zu sich selbst auf später verschiebt, weil er denkt, wenn ich abgenommen, mehr erreicht, die Krise überwunden oder mehr Geld verdient habe, werde ich mich lieben, wird es niemals tun. Menschen wollen geliebt werden - so wie sie sind. Auch von sich selbst! Warum solltest du jemandem etwas Gutes tun, den du nicht leiden kannst? Dich selbst abzulehnen macht dich weder besser noch stärker noch schlanker noch reicher.
Als Folge ihrer Authentizität fällt es solchen Menschen außerdem leichter, in Verbindung mit anderen zu treten.
Wer sagt, was er fühlt und tut, was er sagt, sogenanntes “kongruentes Verhalten“, besitzt den Schlüssel zu echtem Kontakt mit seinen Mitmenschen und den damit verbundenen tiefen Gefühlen.
Sie ließen davon los, jemand sein zu müssen, um zu sein, wer sie wirklich sind. Essentiell für echte Nähe in Beziehungen. Dieses Verhalten setzt allerdings voraus, Verletzlichkeit uneingeschränkt anzunehmen. Verletzlichkeit wird dabei weder als etwas Angenehmes, noch als etwas Qualvolles gesehen, sondern lediglich als Notwendigkeit. Die Bereitschaft etwa, auf einen Partner zuzugehen und zuerst „Es tut mir leid!“ zu sagen, die Bereitschaft, etwas zu tun, für das man auch abgelehnt werden könnte und für das es keine Erfolgsgarantie gibt - erst das macht lebendige Beziehungen möglich.
Sich selbst liebende Menschen sind überzeugt davon, dass sie das Eingestehen und Zeigen von Verletzlichkeit zu etwas Besonderem macht. Dabei empfinden sie nicht weniger Scham als andere, aber sie gehen natürlicher mit ihr um. Sie betrachten ihr Selbstbild mit Gelassenheit und orientieren sich nicht vorwiegend daran, was andere denken könnten, sie lassen sich ein und gehen unerschrocken mit ihren Emotionen um.
Menschen die ihre Verletzlichkeit annehmen sind resilienter. Rene Brown nannte diese Gruppe: wholehearted. Das Wort Courage stammt aus dem Französischen und meint Mut, Beherztheit, Schneid, Unerschrockenheit, Coeur ist demnach das Herz.
Das Leben ist nichts für Feiglinge. Es bewegt sich in Höhen und Tiefen - ein ständiges Auf und Ab. Es ist das Negative, das sich in unser Hirn brennt und uns im Laufe des Lebens vorsichtiger bis allzu vorsichtig werden lässt.
Fallbeispiel: Erika, 42, ist nach einer heftigen Trennung in ein tiefes emotionales Loch gefallen. Sie beschließt, sich nie wieder so verlieben zu wollen. „Denn am Ende tut es immer furchtbar weh!“ Diese Überlegung gibt ihr vermeintlich Sicherheit.
Unsere Projektionen und Interpretationen nehmen negativ Szenarien vorweg, die in der Realität mit hoher Wahrscheinlichkeit niemals eintreten werden. Aus Angst abgelehnt und nicht geliebt zu werden, legen wir unseren Schutzpanzer äußerst ungern ab. Sich verletzlich zu machen bedeutet, sich auf unsicheres Terrain zu begeben. Ein emotionales Risiko einzugehen. Der scheinbar schützende Panzer aus Unnahbarkeit verhindert jedoch auch, dass wir berührt werden. Dass wir intensiv fühlen, weil wir empfindsam sind, schlichtweg: dass wir wahrhaftig leben.
Indem wir unsere eigene Verletzlichkeit annehmen, beugen wir der Gefahr vor, uns (aus Scham) zu isolieren. Scham verzerrt die eigene Perspektive – weil das, was man an sich selbst für unverzeihlich hält, bei anderen in der Regel verzeihlich ist. Und meistens gar nicht der Rede wert. Scham isoliert, weil Menschen, die sich schämen, denken, sie seien mit ihrem Makel die Einzigen. Scham choreografiert Existenzen.Scham ist im Wesentlichen die Befürchtung, mit all unseren Schwächen und Fehlern nicht liebenswert zu sein. Nicht dünn genug. Nicht reich genug. Nicht schön genug. Nicht versiert genug. Auf der Karriereleiter nicht weit genug aufgestiegen. Zu wenig Kompetenz. Zu wenig Macht. „Wer denkst du eigentlich, wer du bist?“ Und Scham ist dabei die heiße Gefühlswoge, die über uns hinwegrollt und uns vermittelt, dass wir klein und fehlerhaft sind.
Wir verschanzen uns und wagen nichts, damit uns nichts passieren kann. Doch zu welchem Preis? Mauern verhindern zwar große Verletzungen durch vermeintlich negative Erfahrungen, aber leider auch positive Erlebnisse, die uns nur dann widerfahren können, wenn wir uns der Welt offen und einladend zeigen. Hinter diesen Mauern hervorzukommen und sich nicht von Ängsten beherrschen zu lassen, erfordert unglaublichen Mut!
There is a crack in everything, and this is where the light gets in
Leonard Cohen
Verletzlichkeit hat nichts mit Schwäche zu tun, im Gegenteil. Es ist das Mutigste, das man tun kann, wenn man zuerst „Ich liebe dich!“ sagt, denn du gibst damit deinem Gegenüber die Macht, dich verletzen zu können. Doch nur wenn du diesen Zustand akzeptierst, hast du eine Chance auf Liebe. Verletzlich zu sein, kann Quelle von Schmerz sein, doch auch die Wurzel vieler positiver Emotionen.
Was auch immer es ist: face your fears, sprich es an, spuck es aus, sag, was du fühlst. Und hör auf, die Wahrheit auf morgen zu verschieben!b Sprich das Unausgesprochene an, trenne dich von Menschen und oder Dingen, die dir nicht gut tun oder gestehe deine Liebe. Lehne dich gegen Ungerechtigkeit auf oder sei friedlich, weil du lieber kommunizierst, anstatt zu kämpfen, und mach das längst fällige Telefonat. Bist du Perfektionist oder Workaholic, gib zu, dass auch du mal müde bist. Häng den Bürojob, den du hasst, an den Nagel, und werde Waldpädagoge. Organisiere eine Ausstellung für deine Bilder. Schreib ein Buch, inszeniere ein Theaterstück oder gönn dir ein Drama. Verreise alleine. Tritt einer Selbsthilfegruppe bei oder gründe eine. Befreie dich aus den stressigen Zwangsjacken von Coolness und Kontrollwahn, und schick die Unantastbarkeit zum Teufel! Ehrlichkeit und Authentizität bilden die Basis jeden Vertrauens und sind essentiell für glückliche Beziehungen. Kongruentes Verhalten setzt allerdings voraus, die eigene Verletzlichkeit uneingeschränkt anzunehmen.
Sei dir bewusst, dass der auf Autopilot gesetzte Uranteil deines Gehirns (Limbisches System) nicht dazu da ist, dich glücklich zu machen, sondern dein Überleben zu sichern. Dieser Teil des Gehirns ist ständig mit der Frage beschäftigt, wo der große Säbelzahntiger lauert, der dich fressen möchte. Dieser Teil ist ständig am zweifeln und fungiert ähnlich einer innerlichen Handbremse, die dich, den Gehirnbesitzer, daran hindern soll, Energie aufzuwenden, den ersten Schritt zu tun und sich damit womöglich Gefahren auszusetzen. Mangels Säbelzahntigern ängstigen wir uns gegenwärtig meist vor Situationen, die bei näherem Hinsehen vielleicht unangenehm, aber keineswegs gefährlich sind. Wenn wir immer nur tun, was wir schon können, werden wir zwar nicht gleich scheitern, verlieren aber auch die Chance, neue Erfahrungen zu machen und zu wachsen. Je länger wir warten, desto größer wird die Last aus Scham und verpassten Gelegenheiten. Wer nichts riskiert, riskiert am Ende alles.
Menschen die den Wert Sicherheit über den Wert Entwicklung stellen, verschanzen sich bzw. wagen nichts, damit ihnen nichts passieren kann. Anstatt im Worstcase Ablehnung auszuhalten, schämen sie sich für ihr vermeintliches Nicht-gut-genug-Sein, fühlen sich minder wertvoll und nicht liebenswürdig genug. Wenn wir hingegen die Komfortzone verlassen und unserem natürlichen Bedürfnis nach Nähe und Kontakt zu anderen Menschen nachgehen, verschwinden soziale Hemmungen mit ein wenig Übung mehr und mehr, wachsen wir an unseren Herausforderungen und entsteht eine positive soziale Dynamik. Leben beginnt immer am Rande unserer Komfortzone.
Menschen, die den Mut haben, ohne Scheu zu ihrer Verwundbarkeit zu stehen, sind keine heulenden Jammerlappen. Im Gegenteil, Männer und Frauen, die offenen Herzens leben sind selten und leben auf beeindruckende Weise.
Mein Rat: Bitte vergiss es, dass dich alle so sehen, wie du es dir mit deinem überzogenen Selbstbild erwartest! Das ist schlichtweg unmöglich. Es wird immer jemanden geben, der es besser weiß, dem nicht gefällt, was du tust, was du sagst oder was du anhast. Gewöhne dich daran, akzeptiere, dass du es nicht allen recht machen kannst. Konzentriere dich auf deine Freunde, Fans, Familie und deine Verbündeten. Du bist vor allem dort angreifbar, wo du dich selbst bereits angegriffen hast. Sieh, wie es ist, aber mach es auch nicht schlimmer, als es ist! Hör auf, dich selbst zu belügen, sei ehrlich zu dir und erkenne, was du verändern kannst. Dann gib dein Bestes, denn wer sich selbst liebt, tut sich gerne Gutes. Für Dinge, die außerhalb deiner Kontrolle liegen und das, was nicht zu ändern ist, gilt – rock your insecureties! Das Bewusstwerden des eigenen Denkens und Verhaltens ist die halbe Miete, genauso wie der offene Austausch mit unterstützenden Mitmenschen, wenn man sich gekränkt, verletzt und belastet fühlt.
Um nach einschränkenden Erfahrungen und traumatischen Ereignissen wieder emotionales Gleichgewicht zu erlangen, ist professionelle Unterstützung hilfreich. Ein geschulter Berater kann gemeinsam mit dir Strategien entwickeln, damit du zukünftig eigenmächtig und konstruktiv solchen Belastungen begegnen kannst. Letztlich bleibt man sonst immer ein ängstlich Getriebener, der durch glückliche Zufälle und ständiges Ausweichen überlebt.
Auch wenn sich selbst zu öffnen und damit empfindsam zu machen, ein Zeichen von Stärke und Mut ist, bleibt es aber tatsächlich viel einfacher, Verletzlichkeit zu vermeiden. Deshalb betäuben wir uns und unsere Emotionen. Wir nehmen Drogen, essen aus Frust und trinken zu viel Alkohol, bekommen Depression und Burnouts. Wir werden aggressiv oder wenden gar Gewalt an und schikanieren andere und uns selbst, vielleicht mit einer Essstörung. Und wenn wir gar keinen Ausweg mehr sehen, bekommen wir Panikattacken oder begehen wir vielleicht sogar Selbstmord.
Schmerzhafte Emotionen wie Trauer, Beschämung, Angst, Liebeskummer oder Enttäuschung sind ein Lebenszeichen, sie haben ihren Zweck und gehören unweigerlich zum Leben dazu. Wir können Emotionen nicht selektiv betäuben. Wenn wir unangenehme Emotionen betäuben, würgen wir auch Kreativität, Dankbarkeit und die Möglichkeit von intensiven Glücksgefühlen wie Liebe und Leidenschaft ab. Was schließlich dazu führt, dass wir uns gedämpft und miserabel fühlen, nach Sinn und Bedeutung im Leben suchen, uns erst verletzlich fühlen, und den Frust darüber, nicht perfekt, sondern menschlich zu sein, mit ein paar Bieren oder einer Tafel Schokolade wieder ausblenden. Ein Teufelskreis.
Verletzlichkeit ist der Schlüssel zu einem aus ganzen Herzen erfüllten Leben. Mit ihr kann man Grenzen überwinden und den Horizont erweitern. Sie ist der Geburtsort von Innovation und Wandel, und durch sie gibt es keinen Stillstand. Sie ermöglicht Persönlichkeitsentwicklung und emotionale Intelligenz. Sich verletzlich zu zeigen fühlt sich gefährlich an. Aber noch gefährlicher ist es, sich am Ende des Lebens fragen zu müssen: „Was wäre gewesen, wenn?“. Wir haben nur ein Leben, und willst du dich nicht in den lauen Randzonen dieses Lebens aufhalten, sollten wir es nicht in einer Zwangsjacke verbringen.
Wenn wir das Risiko, abgewiesen zu werden, zulassen, eröffnet es uns die Möglichkeit zu Freude, Zugehörigkeit, Intimität und Vertrauen. Sie hilft uns, neue Beziehungen aufzubauen und letztendlich mit uns selbst in Beziehung zu kommen. Menschen wollen geliebt werden so wie sie sind - auch von sich selbst. Mut sich verletzlich zu zeigen trägt dazu bei. Wenn wir uns ein tieferes und bedeutsameres Leben wünschen, führt kein Weg an der Verletzlichkeit vorbei. Der Weg aus der Angst führt immer nur durch die Angst hindurch. Wer keine Angst hat, schwach zu sein, ist stärker!
Erika habe ich genau das erzählt. Die vermeintliche Sicherheit, nie wieder verletzt zu werden, tut auf Dauer unendlich weh. Weil dieser Rückzug auch die Möglichkeit für all die guten Dinge, die aus Verletzlichkeit erwachsen, nimmt: wertvolle Lernerfahrungen, Leidenschaft, Kreativität, Genuss und Liebe - und somit echte Lebensfreude.
Natürlich ist es nicht sinnvoll, zu viel von sich preiszugeben. Emotionale Inkontinenz hat nichts mit „zu seinen Gefühlen stehen“ zu tun. Intimes soll nicht mit jedem x-beliebigen Fremden geteilt werden. Familie, Freunde, Partner und Menschen, die uns am Herzen liegen verdienen es, zu hören, was uns bewegt. Vertrauen und Verletzlichkeit pflegen eine sehr symbiotische Beziehung. Wenn ich mich sehr verletzlich zeige und der andere dafür Verständnis signalisiert, kann ich mich weiter öffnen und noch stärker vertrauen.
Scham wird immer mit Verletzlichkeit einhergehen. Es ist eine Illusion zu denken, dass wir eines Tages Scham gänzlich vermeiden können. Doch wir können ihr die Stirn bieten. Indem wir über sie reden! Scham, meint Brene Brown, brauche drei Zutaten, um sich quasi exponentiell zu vermehren: Bewertung, Heimlichkeit und Schweigen. Scham hasst es, wenn sie mit Wörtern konfrontiert wird. Rufe jemanden an und teile deine Ängste. Du baust Widerstandsfähigkeit gegenüber Scham auf, wenn du dir ihrer bewusst bist und laut aussprichst, wie es dir geht. Wenn du über die Dinge sprichst, für die du dich schämst, werden sie weniger.
Fazit: Ein anderer Umgang mit Verletzlichkeit erweitert die persönliche Wahrnehmung fundamental und hat Einfluss auf die Art zu arbeiten, zu leben und zu lieben. Sich trotz all seiner Fehlern selbst anzunehmen, daran zu glauben, (gut) genug zu sein, liebenswert zu sein, ist der Schlüssel zu mehr Selbstliebe und persönlichem Wachstum. Und erst die Eigenliebe ermöglicht uns, liebevoller, mitfühlender und freundlicher zu den Menschen um uns herum zu sein. Tiefe Bindungen und Beziehungen mit anderen Menschen aufzubauen, funktioniert nicht, wenn wir uns hinter einer Maske verbergen und Perfektion heucheln. In den Momenten, in denen wir zugeben, dass wir Angst haben oder uns unsicher fühlen, reagieren die Menschen in der Regel nicht mit Spott, sondern positiv mit Mitgefühl oder größerer Offenheit ihrerseits. Wenn wir wieder zueinander finden wollen, ist Verletzlichkeit der Pfad. Wenn wir lernen, richtig mit Verletzlichkeit umzugehen, profitieren wir von ihr in allen Bereichen des Lebens. Es bedeutet zu leben - aus vollem Herzen!
Quellen: Wikipedia Scham; TED-Talks Brene Brown.