Selbstsicher werden: Wer nach Perfektion strebt, urteilt andauernd ob etwas richtig oder falsch ist, das Beste oder der Superlativ ist, oder nicht. Für Michelangelo hat die Schöpfung ein tadelloses Werk vollbracht: "Die Erschaffung Adams", Sixtinische Kapelle. Heute sehen viele Forscher dies anders. Hier erfährst du, warum Perfektion kein Standard ist, an dem du dich messen solltest.
Der Mensch ist nicht perfekt. "Der Mensch ist biologisch nicht gerade ein ausgereiftes Modell. Die Evolution hat in uns viele offene Baustellen hinterlassen, mehr als in anderen Lebewesen auf der Erde. Der Blinddarm ist Paradebeispiel für nicht nur ein überflüssiges, sondern gar störendes Überbleibsel aus der Frühzeit."
Welt Online, September 2010
Selbstsicher werden: Du bist nicht perfekt... na und?
Selbstsicher werden hat nichts mit perfekt sein zu tun! Ganz im Gegenteil, zu jener Idee, die besagt, der Mensch sei die Krönung der Schöpfung, hier einige Fakten!
Dein Wurmfortsatz ist nicht perfekt
Kein Mensch braucht einen Wurmfortsatz: Das blinde Ende unseres Dickdarms verstopft nur all zu gern und führt zu unangenehmen Bauchschmerzen. Schon ein Kirschkern kann in die Klinik führen: Im Jahr 2005 kamen allein in Deutschland 107 741 Patienten auf Grund einer Appendizitis unter das Messer. Aber nicht nur der Wurmfortsatz bereitet uns mehr Kummer als Freude. Selbstsicher werden hat nichts mit perfekt werden zu tun.
Deine Augen sind nicht perfekt
Obwohl das Auge unser mit Abstand am besten entwickeltes Sinnesorgan ist, sind uns die meisten Wirbeltiere überlegen. Von Wirbellosen ganz zu schweigen. Der menschliche Sehnerv liefert 85 Prozent der im menschlichen Gehirn gespeicherten Informationen.
Vergleicht man das menschliche Auge jedoch mit dem eines Tintenfischs, so erkennt man, dass unser wertvollstes Sinnesorgan falsch herum funktioniert – physikalisch ein echter Irrsinn.
Die menschliche Evolution ist nicht perfekt
Die Menschheit ist biologisch betrachtet alles andere als die Krone der Schöpfung. Aber werden wir das jemals sein? Beeinflussen ein verbessertes Gesundheitssystem und Fortschritte in der regenerativen Medizin unser Erbgut? Wohin geht die Evolution?
„Die Evolution geht ziemlich langsam nirgendwo hin“, sagt der Biophilosoph Michael Ruse.
Im Gegenteil: Medizinische Fortschritte, wie sie nur in den Industriestaaten zu verzeichnen sind, haben keine nennenswerten Auswirkungen auf den Genpool der menschlichen Art. Wenn überhaupt, dann bewirken sie, dass das schlechte Erbgut sich durchsetzt. Eine fortschrittliche Medizin verlängert das Leben eines Individuums, nimmt aber keinen Einfluss auf das Erbgut – und damit auf die Gesamtheit der Menschen.
Deine Genetik ist nicht perfekt
In genetischer Hinsicht ist der Schimpanse dem Menschen ein Stück voraus, wie Forscher jetzt mit Verblüffung feststellten. Vor sechs Millionen Jahren trennten sich die Wege von Schimpanse und Mensch. Evolutionsbiologen der University of Michigan haben insgesamt 14 000 Gene verglichen, die sowohl der Mensch als auch der Schimpanse in sich trägt. Verblüfft stellten sie fest: Beim Affen haben sich 233 Gene perfektioniert. Beim Menschen sind es nur 154.
Deine menschliche Lunge ist nicht perfekt
Auch die menschliche Lunge glänzt nicht durch Perfektion – eine Tatsache, der jeder Asthmatiker vermutlich uneingeschränkt zustimmen würde. Auch wenn Reinhold Messner im Jahr 1978 ohne zusätzliche Atemhilfe auf den 8848 Meter hohen Mount Everest kletterte; Vögel fliegen und atmen in noch weitaus schwindelerregenderen Höhen.
Die menschliche Lunge bildet eine Sackgasse. Atemluft strömt zunächst hinein, verweilt einen kurzen Augenblick zum Gasaustausch und wird schließlich wieder ausgeatmet. Die „verbrauchte“ Luft wird jedoch nicht komplett abgeatmet und so kommt es in unseren Atemwegen zwangsläufig zu einer Vermischung von sauerstoffreicher und sauerstoffarmer Luft – unsere Lungenbläschen müssen sich letztendlich mit Mischluft zufrieden geben.
Deine Zellen sind nicht perfekt
Nicht nur unsere Organe sind ernüchternd weit von einer Perfektion entfernt, auch die einzelne Zelle ist es. Auf mikroskopischer Ebene hat die Evolution ihre, aus heutiger Sicht, störenden Spuren hinterlassen. Vor etwa zwei Milliarden Jahren schlossen sich Bakterien und frühe Vorläufer unserer Körperzellen zu symbiotischen Lebensgemeinschaften zusammen.
Bakterien mutierten vermutlich zu den uns als Mitochondrien bekannten Zellorganellen. Heute arbeiten sie als Kraftwerke in unseren Zellen – Zucker wird verbrannt. Da Mitochondrien ursprünglich als selbstständige Organismen funktionierten, verfügen sie in ihrem Inneren auch heute noch über eigene DNA. Insgesamt 13 Gene, die Bauanleitungen von 13 für die Funktion eines Mitochondriums entscheidenden Proteinen, lagern in unseren zellulären Kraftwerken.
Es erscheint überaus fahrlässig, die Anleitung der Kraftwerksbestandteile direkt neben seinem Ofen zu lagern. Die Evolution hat es aber bisher nicht für nötig gehalten, die verbleibenden 13 Gene zu dem übrigen Genom im sicheren Zellkern zu verlagern.
Trotzdem streiten wir mit der Realität und streben Unmögliches an, prügeln uns und andere mit Standards, die wir nur künstlich erfüllen können und vergessen dabei:
"Wer nach Perfektion strebt urteilt andauernd, ob etwas richtig oder falsch ist, das Beste oder der Superlativ ist - oder nicht. Selbstsicher werden ist damit praktisch unmöglich. Doch Perfektion ist der niedrigste Standard, den der Mensch leben kann. Perfektion ist kein Standard, weil Perfektion nicht existiert und somit unmöglich ist. Wer versucht perfekt zu sein, hat keinen Standard, sondern nur einen Weg, sich selbst und andere ständig zu prügeln."